Dilemma (am Morgen) – Kindergarten ja oder nein?!
Ein Dilemma beschreibt ein scheinbar unlösbares theoretisches Problem. Mein persönliches morgendliches Dilemma heißt „Kindergarten ja oder nein“. Meine Kinder sind fast 4 und 5 Jahre und gehen für ein paar Stunden am Tag in einen kleinen Kindergarten. Warum?
1. Weil ich das Gefühl habe, dass sie an vielen Tagen gerne dorthin gehen.
Sie genießen das Zusammensein mit anderen Kindern, die Impulse von vertrauten weiteren Erwachsenen und die Freiheit auch mal Dinge zu probieren, die sie von zu Hause so nicht kennen.
2. Weil ich selber die „freie“ Zeit genieße, um Dinge zu tun, die ich persönlich benötige.
Ich sorge in dieser Zeit für mich selbst und unseren Familienunterhalt. In beiden Fällen steige ich kurz aus der direkten Bedürfnisbefriedigung meiner Kinder aus. So nähre ich nicht nur unseren Geldbeutel, sondern auch meinen Energiehaushalt.
Nun fragst Du Dich, was dabei mein persönliches Dilemma ist? Ich würde es mal so zusammenfassen: Mein Bedürfnis nach Autonomie und Allein sein, ist aktuell in Summe größer, als das meiner Kinder. Denn, es gibt Tage wie heute. Da sagt mein Sohn ganz klar: Ich will zu Hause bleiben. Ich will nicht in den Kindergarten. Und an vielen Tagen ist das für mich auch vollkommen OK.
Für mich ist der Kindergarten eine Möglichkeit, die unser Familienleben unterstützt. Ich sehe für meine Kinder keine Notwendigkeit einer Routine oder gar eines Zwanges, in den Kindergarten zu gehen.
Aber heute war da MEIN persönlicher Drang, unbedingt arbeiten zu wollen. Denn ja, ich WILL arbeiten. Ich nähre dadurch mein eigenes Bedürfnis nach Selbstbestimmung und in Beziehung sein mit anderen Menschen (über meine Kernfamilie hinaus). Und, natürlich ist es mir auch wichtig, genug Geld für die Bedürfnisse und Wünsche von mir und meiner Familie zu haben.
Konkret ist also an diesen Tagen folgendes mein Dilemma: Wie werde ich den Bedürfnissen von mir UND meinem Sohn zeitgleich gerecht. Welchen Weg kann ich wählen? Natürlich kann auch mein Mann Geld verdienen und mit meinem Sohn Zeit verbringen. Wir haben tatsächlich unser Leben so eingerichtet, dass es an vielen Tagen möglich ist.
Wir arbeiten beide in Teilzeit und wechseln uns ab. Dennoch gibt es Tage wie heute, da will mein Mann arbeiten, ich will arbeiten und mein Sohn will nicht in den Kindergarten.
Und was tue ich an diesen Tagen: Ich gehe in Beziehung. Ich teile meinem Sohn mein Bedürfnis mit. Ich sage ihm, dass ich heute arbeiten WILL. Ich spreche aus, dass ich manchmal Zeit für mich alleine MAG. Ich erkläre, dass es für mich wichtig ist zu arbeiten, um Geld zum Einkaufen zu haben. Ja, das fühlt sich manchmal komisch und ungewohnt an. Ich reflektiere dann, ob ich meinem Sohn dadurch zu viel Verantwortung übergebe. So als solle ER mir jetzt die Erlaubnis erteilen, dass ich arbeiten gehen darf. Aber, das ist nicht der Grund für meine Mitteilungen.
Ich belasse die Verantwortung bei mir. Wenn er weiterhin nicht gehen will, dann bleibt es meine nicht seine Aufgabe, einen für uns passenden Weg zu finden.
Doch, warum teile ich diese Dinge meinem Sohn trotzdem mit?! Mein Sohn darf wissen, was mich bewegt. Warum ich gerade ungeduldig und unzufrieden bin. Er darf wissen, dass ich manchmal gerne alleine bin. Er darf wissen, dass ich gerne arbeite und es genieße meinen eigenen Interessen zu folgen. Er darf den Zusammenhang von Arbeit, Geld und Einkaufen ganz langsam und praxisnah kennen lernen. Ich möchte transparent und offen benennen, was er sonst mit seinen sensiblen feinen Antennen eh sofort spürt.
Ich möchte, dass mein Sohn in diesen Momenten weiß, dass es ein JA zu mir und meinen Bedürfnissen und kein NEIN zu ihm ist.
So können wir beide an diesen Tagen viel voneinander lernen. Ich selber lerne, wie ich gut für mich UND meine Familie sorge und wie ich meine Bedürfnisse wertschätzend in Beziehung setze. Ich darf dann erfahren, dass mein Sohn an manchen Tagen die Entscheidung trifft, sein Bedürfnis zurück zu stellen und mit meinem Bedürfnis zu kooperieren. Manchmal sagt er dann plötzlich nach einer Zeit des inneren oder äußeren Abwägens: OK Mama, jetzt können wir gehen. An anderen Tagen bleibt er ganz klar: Nein Mama, heute geht es gar nicht! Dann ist es an mir, die Verantwortung für unsere Beziehung zu übernehmen.
Warum schreibe ich über dieses Dilemma so ausführlich?! Zum einen möchte ich sagen: Hey, mir geht es genau wie vielen von Euch. Ich kenne diese alltäglichen Sorgen, Nöte und Ängste des Lebens. Ich lebe kein Musterleben. Und zum anderen möchte ich mit Euch teilen, dass es noch viele andere Weg gibt, um mit diesem scheinbar unlösbaren Dilemma im Alltag umzugehen.
Das Leben ist für mich ein schillernder Diamant. Von verschiedenen Seiten betrachtet, zeigen sich in jeder Situation unglaublich viele Möglichkeiten aus denen wir wählen können.
Bezüglich meines morgendlichen Kindergarten-Dilemmas offenbart der Lebens-Diamant z.B. noch folgende weitere Wege:
1. Kapitulation und vollkommene Hingabe an den Moment:
Denke ich nicht lösungs- sondern ressourcenorientiert stelle ich manchmal schlichtweg fest, dass ich gerade keine Ressourcen mehr übrig habe, um wertschätzend in Beziehung zu gehen. Dann wähle ich die Kapitulation. Und zwar kapituliere ich vor dem Wunsch des Funktionierens. Ich höre auf, eine Lösung für die Zukunft finden zu wollen und gebe mich dem Moment vollkommen hin. Konkret: Ich verweile im Jetzt, um neue Energie zu tanken und einfach zu schauen, was passiert, wenn ich wieder neue Ressourcen habe. In diesen Momenten ist es für mich wichtig bei mir zu bleiben, da ich ohne Ressourcen kein „guter“ Beziehungspartner für meine Kinder bin. Ich setze mich z.B. auf den Boden und atme, ich schreie meine innere Not laut in die Luft, ich mache mir Musik an und tanze oder trinke einen Café oder Tee. Vor allem aber warte ich und verweile im SEIN, bis das Leben mir zeigt, wie es weiter gehen kann. Und ja, dieses Wunder passiert!
2. Reflektion, was Wünsche und echte Bedürfnisse sind:
Jesper Juul schreibt über die Bedeutsamkeit als Eltern zwischen Wünschen und Bedürfnissen zu unterschieden. Ich persönlich denke, dass unsere Wünsche nicht weniger wichtig sind als unsere Bedürfnisse. Ich glaube aber, dass ich mit Wünschen anders umgehen kann, als mit Bedürfnissen. Denn, Wünsche lassen sich einfacher auf später verschieben. Wünsche können manchmal durch eine andere kreative Idee ersetzt werden, die gerade besser passt. Wünsche können leichter losgelassen werden, wenn jemand klar sagt, „Nein, das will ich jetzt nicht. Das steht heute im Widerspruch zu meinem Bedürfnis.“ Manchmal geht es meinem Sohn z.B. „nur“ darum, dass er am Vormittag gerne einen Film schauen würde, was im Kindergarten nicht möglich ist. Die Aussicht auf einen Film am Nachmittag verändert dann plötzlich die ganze Situation und ich verstehe, dass es in diesem Fall gar nicht um sein Bedürfnis mit mir zusammen zu sein ging, sondern um seinen Wunsch einen Film zu schauen.
3. Wiedervereinigung der Lebensinseln von Kindern und Erwachsenen an einem Ort:
Dieser Weg ist mein persönliches Highlight. Ich wünsche mir gemeinsame Lebensräume für Erwachsene und Kinder. Lebensräume die wir so gestalten, dass dort die Bedürfnisse von Kindern UND Erwachsenen gleichermaßen befriedigt werden können. Und im Grunde ist das gar nicht so schwer, da wir im Kern alle sehr ähnliche Bedürfnisse haben. Wir alle brauchen gesundes Essen, Zugang zur Natur, ausreichend frische Luft, körperliche Bewegung, Phasen der Erholung und Freiräume für unser autonomes Spiel, das kreative Gestalten und ein selbstgesteuertes Lernen. Auch haben wir alle das Bedürfnis nach wertschätzenden Beziehungen als Teil einer gleichwürdigen Gemeinschaft. Die Herausforderung dabei ist, dass wir nicht alle die gleichen Bedürfnisse zur gleichen Zeit haben. Und natürlich tragen wir Erwachsenen noch die zusätzliche Verantwortung dafür, dass die notwendigen materiellen Ressourcen zur Verfügung stehen und erhalten bleiben. Dieser Verantwortung können wir meiner Meinung nach zukünftig besser in gemeinschaftlichen Lebensräumen gerecht werden, als durch ein Leben in Kleinfamilien ergänzt durch Kindertagestätten. Ich denke an Lebensräume, wo Erwachsene und Kinder gemeinsam leben, lernen und arbeiten. Hier geht meine Idee der FreilernKita in die Idee der FreilernOrte über. Für mich persönlich ist es noch eine Vision. Für andere Familien und Gemeinschaften bereits gelebte Realität.
Wie Du siehst, hat mein Dilemma am Ende eine Tiefe, die weit über ein morgendliches persönliches Dilemma hinausgeht. Für mich ist es vielmehr ein gesellschaftliches Dilemma, dem ich mich stellen möchte.
Ich freue mich daher sehr, mit Dir zu Deinen Gedanken und Vision in Kontakt zu kommen. Lass uns gemeinsam unsere Visionen Wirklichkeit werden lassen, indem wir die Vielfalt des Lebens-Diamanten nutzen!
Bist Du dabei, dann schreib mir doch einfach eine Mail! Ich freue mich auf Dich!!!
Von Herzen,
Deine Julia
Was ich konkreter unter einer FreilernKita verstehe, kannst Du hier in der 1. Ausgabe der FreilernKita lesen. Sehr gerne halte ich Dich mit meinem Newsletter weiter auf dem Laufenden.
Und hier findest Du meine facebook-Seite LebensraumKita oder komm für einen tieferen Austausch mit Gleichgesinnten direkt in unsere LebensraumKita-Community auf facebook.
Über die Autorin:
Julia Stoch ist 39 Jahre alt, verheiratet und Mutter von zwei Kindern (3 und 5 Jahre). Sie lebt und arbeitet in München. Sie ist Dipl. Psychologin, Lernbegleiterin für das Kleinkindalter, Familylab-Seminarleiterin, Coach in der „Kunst des Zuhörens“ und Entspannungspädagogin. Sie begleitet Familien und Kitas auf Ihrem Weg von der Erziehung zur Beziehung. www.lebensraumkita.de www.lebensraumfamilie.de
Am 17. März 2018 startet die Grundausbildung zum Kita-FreilernBegleiter in München. Es gibt noch freie Plätze!